Juttas Geschichte

Du musst froh sein, dass wir Dich genommen habe, denn Deine Mutter wollte Dich nicht!

 

Da ich es immer schon sehr eilig hatte, kam ich an einem Winterabend am 22. Dezember 1958 um vier Wochen zu früh zur Welt. Das bescherte meiner Mutter und mir fröhliche Weihnachten im Krankenhaus. So ganz genau kann ich mich nicht mehr an dieses Weihnachtsfest erinnern, aber es war sicher sehr schön. Ich wog nur 2,33 kg und war 47,5 cm klein (kurz), ein "Frühchen" eben. Im Alter von sechs Wochen überstand ich eine Lungenentzündung unbeschadet. Meine Mutter war aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, mich zu behalten. Unter anderem hatte sie bereits einen einjährigen unehelichen Sohn. Mein Großvater mütterlichseits weigerte sich beharrlich, die Adoptionsfreigabe zu unterschreiben. Nachdem meine leibliche Mutter die Volljährigkeit erreicht hatte, unterschrieb sie schweren Herzens die Freigabe. Mein leiblicher Vater glaubte nicht so recht an die Vaterschaft, erst ein Test lange nach meiner Geburt konnte ihn davon überzeugen. Eine Heirat meiner leiblichen Eltern kam nicht in Frage, da beide bereits neue Partner gefunden hatten. So verbrachte ich meine ersten 2 1/2 Lebensjahre in einem Kinderheim. Erinnern kann ich mich an diese Zeit nicht, es existieren aber Fotos davon. Eines dieser Bilder verwahrte meine Mutter auf, andere blieben im Besitz meines Großvaters. Meines Erachtens hatte er großen Anteil an der Adoptionsfreigabe. Großvater war es aber auch, der mich im Kinderheim besuchte, was Fotos beweisen. 1961 holten mich meine zukünftigen Adoptiveltern aus dem Heim ab. Im Alter von vier Jahren wurde ich adoptiert. An meine Kindheit kann ich mich nicht sehr gut erinnern, vermutlich habe ich einiges verdrängt. Ich glaube, im Alter von sechs oder sieben Jahren erfuhr ich von meiner Adoption. Ich fasste das positiv auf. Für mich war es interessant und spannend, das einzige Adoptivkind in meiner Schulklasse zu sein. Getauft wurde ich in Anwesenheit meiner Schulkollegen/-kolleginnen erst im Alter von sieben oder acht Jahren. Meine Schulzeit verlief ohne große Komplikationen, da ich ein ziemlich angepasstes Kind war. Meine Adoptiveltern waren relativ alt und ich wurde dementsprechend streng erzogen. Genau erinnern kann ich mich an folgenden Ausspruch meiner Adoptivmutter: "Du musst froh sein, dass wir dich genommen haben, denn deine Mutter wollte dich nicht." Dieser Satz hat meine Einstellung gegenüber meiner leiblichen Mutter sehr negativ beeinflusst. Für mich war sie einfach nur die Frau, die mich geboren hat. Diese Frau, die mich nicht wollte, interessierte mich jahrelang nicht. Dennoch konnte ich es nicht lassen, immer wieder und bei allen möglichen Gelegenheiten von meiner Adoption zu erzählen. Daraus schließe ich, dass mich dieses Thema unbewusst doch beschäftigt hat. In meiner Neugier kramte ich eines Tages ohne Wissen meiner Adoptiveltern den Adoptionsvertrag hervor und somit kannte ich die Namen meiner leiblichen Eltern.

Anlässlich meiner Heirat im Jahr 1982 benötigte ich den Geburtenbuchauszug meiner leiblichen Mutter. Diesem Dokument entnahm ich einige interessante Daten meiner Herkunftsfamilie. Das interessierte mich kurze Zeit und somit war für mich das Thema Adoption wieder abgeschlossen oder verdrängt (?).Als ich dann schon die 30 Lebensjahre klar überschritten hatte, schlug mir eine Freundin vor, meine leibliche Mutter zu suchen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich ihre Wohnadresse eruiert. Da ich nichts über ihre Lebensverhältnisse wusste (lebt sie in einer Partnerschaft, lebt sie allein?), verzögerte sich die Übergabe eines von mir verfassten Briefes um einige Wochen. An einem Sonntag im März 1996 war es dann so weit. Eine ehemalige Schulkollegin überbrachte "der Frau, die mich geboren hat" diesen Brief. Meine leibliche Mutter war darüber sehr erfreut, aber auch geschockt. Auf diesen Moment hatte sie jahrelang sehnsüchtig gewartet: endlich ein Lebenszeichen ihrer Tochter. Noch an diesem Tag rief sie mich erstmals an. Wir telefonierten rund eine Stunde miteinander. Ihr fiel das Sprechen zeitweise recht schwer, da sie von meinem Auftauchen doch überrascht und überwältigt war. Sie erklärte mir die Gründe der Adoptionsfreigabe und riet mir, auch den leiblichen Vater zu kontaktieren. Lustigerweise sprachen wir am Telefon per Sie. Neun Tage nach diesem Anruf fand das persönliche Kennenlernen zwischen meiner biologischen Mutter und mir statt. Es war schön, aber für mich auch ein wenig eigenartig, da ich ihr äusserlich nur sehr wenig ähnle. Rund vier Wochen später lernte ich auch meinen Vater, dem ich aus dem Gesicht geschnitten bin, persönlich kennen.

Vater ist leider bereits 1998 im Alter von 59 Jahren verstorben, meine leibliche Mutter treffe ich alle zwei bis drei Wochen, ab und zu telefonieren wir miteinander. Ich hatte als eine der wenigen Adoptierten das große Glück, beide Elternteile kennenzulernen. Ich habe kein Problem damit, zur Adoption freigegeben worden zu sein, zudem ich die Gründe kenne und sie mir einleuchtend erscheinen. Meine Familie mütterlichseits ist sehr groß. Kontakte pflege ich in erster Linie zu Verwandten, die in Übersee leben. Nach unschönen Szenen nach dem Tod meines leiblichen Vaters ist die Verbindung zu meiner jüngeren Halbschwester abgerissen, der Kontakt mit meinem Halbbruder mütterlichseits ist sehr spärlich. Da ich ohne Geschwister aufgewachsen bin und eher als Einzelgängerin gelte, fehlen mir meine beiden Halbgeschwister eigentlich nicht.

Seit dem Kennenlernen meiner biologischen Eltern befasse ich mich intensiv mit dem Thema Adoption. Abschließend möchte ich festhalten, dass jeder Fall anders gelagert und jede Verallgemeinerung falsch ist. Viele Frauen geben ihr Kind zur Adoption frei, weil sie Gründe dafür haben. Adoption ist ein schwieriges Thema, da ja drei Seiten davon betroffen sind: die leiblichen Eltern, die Adoptivkinder und die Adoptiveltern. Versucht euch doch mal in die Lage der anderen Betroffenen zu versetzen. Vielleicht fällt es euch dann leichter, die "Gegenseite" zu verstehen.

Wenn ihr Lust habt, könnt ihr mich unter nachstehender e-Mail-Adresse erreichen:
jutta_zimmermann@hotmail.com